Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird


Die Leidenden dürfen nicht leidend erscheinen,
sie müssen aktiviert werden, müssen sich von den Leiden befreien.
Peter Weiss


Die Komposition


Peter Weiss gehört zu den Autoren, die ich seit meiner Jugend immer wieder lese, zumal ich niemanden kenne – außer Erich Fried vielleicht – der Brechts Linie so konsequent weiterentwickelt hätte wie er. Dabei stieß ich auch auf das frühe Schaubudenstück »Nacht mit Gästen« und war verblüfft, mit welcher Genauigkeit die Anweisungen zur Bühnenmusik formuliert sind. Das geht so weit, dass Weiss konkrete Instrumente nennt und vorschlägt, die Musik möge am besten durchkomponiert sein. Ich habe seine Anregungen also aufgegriffen und das Stück als Musiktheater realisiert. Während der Arbeit begann ich mich allerdings auch für den »Mockinpott« zu interessieren und nahm mir vor, später auch dieses Stück zu vertonen, weil es die gesellschaftskritische Dimension wesentlich komplexer und tiefgründiger verhandelt als »Nacht mit Gästen« und eine parodistische Ebene hinzufügt, die mir für eine musikalische Umsetzung besonders attraktiv erschien. ...

Im Gegensatz zur romantisch-expressionistischen Oper sollte der Tonfall des »Mockinpott« also keinesfalls luxurieren. Vielmehr musste die Musik knapp und prägnant sein, und einen rhythmischen Drive haben. Ich orientierte mich deshalb an der Kompositionsmethode Hanns Eislers – natürlich ohne ihn zu kopieren. Schon in den 1940er Jahren hatte Eisler gemeinsam mit Theodor W. Adorno argumentiert, dass der musikalische Stil sich verselbständigt habe und nicht mehr als Personalstil, sondern nun je nach Funktion der Musik als ein eigenständiger Parameter eingesetzt werden müsse. Der »Mockinpott« ist als chaplineske Groteske angelegt, weist aber auch Aspekte einer Woyzeck-Travestie auf. Folglich habe ich mich für Stilmittel entschieden, die wandelbar sind und beide Elemente widerspiegeln können. Dabei sah ich meine Aufgabe beim Schreiben nicht zuletzt darin, die Figuren in ihrer holzschnittartigen Gestik besonders charakteristisch hervortreten, die Musik aber auch in ihrer Rolle als autonome Kommentarebene sprechen zu lassen – das Ganze in einem »Ton«, der auch für an »Neuer Musik« ungeschulte Hörer zugänglich ist, jedoch ohne die Vielschichtigkeit und Komplexität des musikalischen Denkens preiszugeben. ...

Stefan Litwin (aus einem Gespräch mit Holger Schröder)

Das Stück


In elf Bildern folgen wir dem Weg von Herrn Mockinpott, der sich im Gefängnis wiederfindet – und nicht weiß warum. Korrupte Beamte ermöglichen, dass er vor die Tür gesetzt wird. Er stolpert ins Freie und trifft auf Herrn Wurst, eine gemütliche Figur, die sich seiner scheinbar annimmt. Ob zuhause bei seiner Ehefrau, bei seinem Arbeitgeber, vor der Regierung und schließlich sogar vor dem lieben Gott: Mockinpott erlebt eine Ungerechtigkeit nach der anderen. Peter Weiss, der an dem Plan arbeitete, mit seinen Stücken eine große »Divina Commedia« zu schaffen, formulierte deren Hauptthema: »Die Leidenden dürfen nicht leidend erscheinen, sie müssen aktiviert werden, müssen sich von den Leiden befreien.« Und Mockinpott beginnt genau ab dem Moment die richtigen Fragen zu stellen, ab dem er durch Operation umfunktioniert werden soll. Er emanzipiert sich zunehmend vom System – und mit tänzerischer Leichtigkeit verlässt er die Szenerie.

Holger Schröder

Video


Trailer zur Urafführung am Staatstheater Braunschweig

Photos: ####

Uraufführung


Stefan Litwin
WIE DEM HERRN MOCKINPOTT DAS LEIDEN AUSGETRIEBEN WIRD
Musiktheater von Stefan Litwin nach dem gleichnamigen Stück von Peter Weiss (2019-22)
Auftragswerk des Staatstheater Braunschweig

UA 5. März 2022 Staatstheater Braunschweig, Kleines Haus

Musikalische Leitung: Alexis Agrafiotis
Regie: Christoph Diem
Bühne und Video: Florian Barth
Kostüme: Elena Gauß
Licht: Rasmus Huxhagen
Dramaturgie: Holger Schröder, Sarah Grahneis

Darsteller


Mockinpott: Zachariah N. Kariithi
Wurst: Robert Prinzler
Ehefrau / Schwester / Regierung 1 / Der Liebe Gott: Julia Suzanne Buchmann*
Wärter / Angestellter / Arzt / Regierung 2: Julius Ferdinand Brauer
Advokat / Nebenbuhler/ Regierung 3: Benjamin Kaygun*
Amtmann / Arbeitgeber / Schwester / Diener: Mirko Näger-Guckeisen*
Vier Engel: Chiara Ducomble*, Bo Mi Lee, Min Geum Jin, Barbara Walach*
*Studierende der HMTM Hannover

Staatsorchester Braunschweig