Rezensionen

Manege frei für einen Jammerlappen


Das Staatstheater Braunschweig spielt die Opern-Uraufführung „Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird“ von Stefan Litwin

… Im Mittelpunkt der traurige Clown, unser Mockinpott, den Zacharias N. Karithi bei aller Larmoyanz zum Sympathieträger macht. Was an seinem liebenswerten Spiel, aber natürlich auch an seiner so wohlig warmen und kräftigen Baritonstimme liegt, mit der er Litwins Vorlage gemäß sich melodisch aussingen darf. Wie er da jede Abfuhr wieder neu in verständnisloser Einsamkeit arios beklagt und sich prompt hoffnungsfroh ins nächste Abenteuer stürzt, das rührt auch in seiner gutmütigen Unbelehrbarkeit. Umso trauriger, dass ihm beim Arzt das Weinen wegoperiert wird und er fortan nur noch kichern und sprechen, nicht mehr singen kann.

Litwins Entscheidung, so den Verlust seiner Menschlichkeit zu zeigen, ist bereits der dramaturgische Knirschpunkt bei Weiss: Dass er ohne dies Zentrum der menschlichen Emotion am Ende zu klügerer Besinnung kommen soll. Das mag noch der alte Reflex gegen Rührung und Mitleid im Brecht-Theater sein, aber wenn Mockinpott ab da seines Menschseins beraubt ist, Teil der Maschine, Puppe wurde, wie kann er dann noch geistige Einsicht erlangen? Wie soll er nun die »Internationale« singen? Immerhin geht er tanzend ab, vielleicht auf der Suche nach neuer Stimme.

Mit viel Perkussion, Bläserstößen, gezupften Streichern treibt Litwin die Handlung voran. Dabei gibt es immer wieder charakteristische Abwechslung, ob nun Kuhglocken den Engelsgesang der vier Choristen profanieren, zum Ehebruch ein betrügerischer Walzer anklingt oder die Nationalhymne unter dem Regierungsgewäsch. Schrill wird’s, wenn der Hund bellt oder Klangstäbe und Flöte zur fiesen OP gellen. Alexis Agrafiotis hält sein »Zirkusorchester« hinterm Gaze-Vorhang präzise beisammen.

Aber Litwin lässt uns spüren, dass ohne die singende menschliche Stimme dem ganzen Lebenszirkus das Entscheidende fehlt. Wie gern hätten wir am Ende noch den befreiten Gesang gehört. Aber, tja, Dialektik der politischen Schaubude: Singt euch selber frei!

Andreas Berger, Braunschweiger Zeitung 7.3.2022

Auf Herrn Mockinpotts Knie ist noch Verlass


Selten so gedacht: Das Staatstheater Braunschweig bringt das Musiktheater »Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird« von Stefan Litwin nach Peter Weiss zur Uraufführung.

... Stefan Litwin hat diese Hanswurstiade in ein hintersinniges Musiktheater transformiert, das jetzt am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt wurde – nach der Moritat »Nacht mit Gästen« 2016 in Saarbrücken Litwins zweite Weiss-Adaption.
Weiss und Litwin sind in ihrer Orientierung an Bertolt Brecht Geis tesverwandte, aber erst mit Litwins pointierter Musik erfährt der bewusst unbeholfene Text in Knittelversen seinen höheren Kunstcharakter. Dem individuell geforderten Ensemble aus fünfzehn Instrumentalisten unter der Leitung von Alexis Agrafiotis kommt dabei die Hauptaufgabe zu, denn für jede der elf Szenen variieren Besetzung, Stil und Charakter wie in einem übergeordneten Vexierspiel, alles Schlag auf Schlag. Die Operationsszene etwa begleiten tiefes Herzklopfen und eine Schwindelmusik ohne (harmonischen) Grund und Boden. Im Bild »Bei der Regierung« ziehen Marschparodien und Fetzen des Deutschlandliedes auf, wechselt die Musik zwischen rhythmischer Betriebsamkeit und surrealer Leere. Vorher ironisieren ein grotesker Walzer, die kurze Epiphanie eines Streichquartetts oder ein dumpfes Kontrafagott für Mockinpotts Nebenbuhler (Benjamin Kaygun) die Handlung, später wird eine konzertante Posaune die Stimme Gottes übernehmen – hier herrlich süffisant als Greisin im Pelzmantel am Rollator (Julia Suzanne Buchmann, auch als Mockinpotts Ehefrau). Die vier Engel haben mit den Cowbells ebenfalls ein Leitinstrument, das ihre klappernden Blechflügel illustriert. Außerdem dürfen sie als einzige Protagonisten neben Mockinpott singen, ein wiederkehrendes »Miserere« im schrägen »alten« Stil. Mockinpott selbst singt nur bis zu seiner Operation – danach kann er nur noch krächzen und kichern. Zachariah N. Kariithi adelt die Titelrolle nicht nur mit warmem, lyrisch fließendem Bariton, sondern auch als Darsteller, der den lächerlichen Typus des Einfältigen ins Charakterfach holt und beim Zuschauer findet, was er auf der Bühne vergebens sucht: Mitleid. Allein bei seinen hoffnungslosen Versuchen, den richtigen Schuh an den richtigen Fuß zu ziehen, ohne je in Ungeduld oder gar Ärger zu verfallen, käme man ihm gern zu Hilfe. Erst am Schluss hat er's raus, wenn er das (Weg)laufen gelernt hat. ...

Lotte Thaler, FAZ 9.3.2022

Spagat auf der Rasierklinge


Uraufführung von »Nacht mit Gästen« von Stefan Litwin an der Hochschule für Musik Saar

Ein dunkles Stück Musiktheater nach einem Theaterstück von Peter Weiss hatte soeben eine glänzende Uraufführung erlebt – an einer bundesdeutschen Musikhochschule.

Zu würdigen wäre hier zunächst die künstlerische Entscheidung Stefan Litwins, etwas ‚nachzuliefern‘, worauf Autor Peter Weiss seinerzeit vergeblich gehofft hatte. Nämlich eine Musik zu »Nacht mit Gästen«, die nicht illustriert, die nicht leierkastet, die vielmehr erstens durchkomponiert und zweitens instrumental am lärmenden Jahrmarkt, an der klackernden Schaubude orientiert ist.

Dies hat Stefan Litwin mit einem Ensemblesatz geliefert, der durchsetzt ist von instrumentaler Theatergestik, mit scharrend-schabenden Geräuschen, forcierten Akzenten, explodierenden Gesangslinien. Zuletzt beim Bonner Beethovenfest als glänzender Pianist und Komponist in eigener Sache hervorgetreten, hat er seinem immer anregenden, immer anspruchsvollen kompositorischen Schaffen mit diesem Musiktheater ein neues Juwel hinzugefügt. Man kann auch sagen: ein Stück Widerstands-Ästhetik. Widerstand jetzt nicht mehr strikt im Weiss‘schen, sondern in dem Sinn, dass es unseren Überlebenswillen in einer neuen, anderen Gewaltumgebung stärkt. Darauf kommt es, soviel wird man sagen dürfen, diesem Komponisten an.

Georg Beck,
nmz 27.10.2016

Neue Qualitäten


Stefan Litwins »Nacht mit Gästen« nach Peter Weiss' gleichnamiger 'Moritat'.

In Litwins Lesart gewinnt das Ganze neue Qualitäten, besonders indem die Partitur Weiss' Wunsch nach einer 'durchgehenden Komposition' statt einer bloß akzidentellen Bühnenmusik erfüllt. ... Im traditionellen Sinn schöne Melodien oder 'Songs' gibt es im Unterschied zu Weill oder Eisler kaum, aber doch viel Prägnantes, Charakteristisches. Anklänge an Jazz, an Ländler oder Tango und zahlreiche mehr oder weniger verdeckte Zitate von Schubert, Chopin, Brahms, Wagner, Mahler und Eisler vermitteln und konkretisieren zusätzlich. ...

Wie die Musik bewusst anti-psychologisierend ist, so sind die stimmige, überzeugende Bühneneinrichtung und szenische Aktion betont anti-naturalistisch und dadurch dramatischen Vorgängen wie Text gemäß. Nicht zuletzt die zweidimensionale Requisiten zeigen das Gedrückte geometrisch-symbolisch (Bühnenbild und Kostüme: Annette Wolf). Schminkmasken erinnern an das japanische Kabuki-Theater. Analog zum virtuos rhythmischen Sprechen sind die ausgefeilten, regelrecht choreographierten und ebenfalls rhythmisierten Gesten (Regie: Frank Wörner, Gesangsprofessor an der Hochschule für Musik Saar).

Hanns-Werner Heister,
Neue Zeitschrift für Musik, 1/2017

Scharf gewetzte Messer


Litwin geht in seiner »Nacht mit Gästen« ganz vom Text aus und verwandelt ihn in Sprechgesang. Diese rhythmisierte Sprache sorgt nicht nur für maximale Textverständ­lichkeit, sondern befördert auch das konsequent durchgehaltene, hohe Spieltempo. Das Orchester besteht aus sieben Musikern – alles famose Studenten der Saarbrücker Musikhochschule  ...

In der perspektivisch verzerrten Guckkastenbühne von Annette Wolf treten auf: Vater, Mutter, zwei Töchter und zwei rätselhafte, unheimliche Gäste, die sich am Schluss in einer auch instrumental scharf gewetzten Messerszene gegenseitig umbringen. Die Kinder sind die einzigen Protagonisten, die diese Nacht mit Gästen überleben. Ungerührt verlassen sie den blutigen Schauplatz als Vollwaisen. ...

Regisseur Frank Wörner, der eine Gesangsklasse an der Saarbrücker Musikhochschule leitet, inszenierte das Stück ebenfalls mit blutjungen Studenten, die sich bravourös in das extrem körperbetonte, gestische Figuren-Theater integrierten, teils als Comic-Figuren, teils als Marionetten, teils als Stummfilm-Akteure.  ...

Die Uraufführung in Saarbrücken jedenfalls ist eine Entdeckung von Peter Weiss für die Musik. Alle kleineren Bühnen müssten sich jetzt darum reißen.

Lotte Thaler,
SWR2, 24.10.2016

 

Litwin_Stefan_playing

Technische Brillanz


Die zweite Klaviersonate von Ives, »Concord, Mass. 1840-1860«, Schlüsselwerk über das geistige Zentrum des neuenglischen Transzendentalismus, ist ein hyperkomplexes Stück, das eigentlich einen Mann mit zwei Gehirnen und drei Händen erfordert.

Stefan Litwin bewältigte das, als sei es das selbstverständlichste von der Welt: Technische Brillanz, musikalisches Verständnis, sicheres Konstruktionsgefühl und eine Art schauspielerische Wandlungskunst im oft abrupten Wechsel des heterogenen Material- und Stimmungslagen ergänzten einander ideal.

Entscheidend aber ist, mit welchem Ernst sich Litwin in die Ausdrucksdignität der einzelnen Charaktere versenkt. Litwin spielt nichts, was er nicht verstanden hat, und scheint in jedem Moment zu wissen, was er musikalisch »sagen« will.

Julia Spinola,
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Als säße Beethoven selbst am Klavier


Eine Offenbarung: Stefan Litwin im Schauspielhaus

Gerade das Besondere des Abends wirft ein trübes Licht auf den Konzertalltag: Beethovens erstes Klavierkonzert, diesmal nicht von einem Pianisten, sondern von einem Musiker gespielt.
Stefan Litwin heißt er und macht bei seinem Auftritt mit dem Berliner Sinfonie-Orchester und Michael Gielen so gut wie alles anders als die aberhundert Klavierarbeiter, deren Beethoven-Darbietungen sich meist so gleichen wie ein Frack dem anderen. [...]

Sein Beethovenspiel ist eine Offenbarung, die den Vergleich mit Rattles »Pastorale« vergangener Woche nicht zu scheuen braucht: Deren Hauptmerkmale, die Auseinandersetzung mit historischer Aufführungspraxis und die Verschmelzung einer durchkalkulierten künstlerischen Aussage mit der (Schein-) Spontaneität des Moments, bestimmen auch Litwins Spiel: Staccato-Spiel, Klangtransparenz und Registergewichtung mit einem knackigen, rhythmisch lebendigen Bass leiten sich direkt vom Hammerflügel der Beethoven-Zeit her und werden von Litwin mit prächtig schillerndem Steinway-Ton koloriert.

Fast denkt man, Beethoven säße selbst am Klavier, so frisch und fast improvisatorisch frei klingt Litwins Spiel.

Jörg Königsdorf,
Der Tagesspiegel, Berlin

Neuland jenseits der Romantik


Michael Gielen und Stefan Litwin in der Alten Oper

Geradezu sensationell war die Interpretation des c-moll Konzerts von Beethoven, bei Litwin kein umwölktes »romantisches« Virtuosenkonzert, sondern glasklare »Kammermusik mit Klavier«. [...]

Der Begriff des Beethovenschen Solokonzerts ist zu überdenken - dazu gaben Litwin und Gielen exemplarischen Anlass.

Hans-Klaus Jungheinrich,
Frankfurter Rundschau

Befreiungskriege schwarz auf weiß


Stefan Litwin analysiert und spielt das C-Dur Klavierkonzert Ludwig van Beethovens

Für Litwin heißt interpretieren im emphatischen Sinne: deuten, und zwar musikalisch wie sprachlich. Daher liebt und pflegt er die schon von Walter Levin und Charles Rosen praktizierte Form des Lecture-Recitals. Jeder, der Litwin einmal auf der Bühne erlebt hat, weiß, dass er auch ein brillanter Redner ist. Daß seine Lectures aber ebenso mitreißend wie erhellend sind, liegt jedoch vor allem daran, dass nichts daran gelehrte Verzierung ist, alles Argumentation.

Nichts macht das Eigenleben, den expressiven Überschuß der Werke deutlicher als Litwins eigene musikalische Interpretation des C-Dur Konzerts. Die Konflikte des Kopfsatzes, seine zerfließende Utopie der Freiheit und die sehnsüchtige Romanze des Mittelsatzes mit ihrer anrührenden, in dieser Aufnahme endlich einmal »wienerisch« ausgespielten Walzerepisode sowie die voller Mutwilligkeiten steckende Janitscharenmusik des Schlussrondos: all dies gewinnt in Litwins Aufnahme eine Plastizität, Eindringlichkeit und Beredtheit, die alle Deutungstheorie plötzlich wieder blaß erscheinen lassen. Was will man mehr?

Julia Spinola,
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Überlegener Perfektionist


Stefan Litwin, der die gigantische Klaviersonate von Jean Barraqué exekutierte, erwies sich als überlegener Perfektionist. Ohne spürbare Beteiligung oder Mühe, dagegen mit unerbittlicher Präzision arbeitete er sich durch das anspruchsvolle Drei-Viertelstunden-Opus.

Albrecht Dümling,
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Hommage à Pierre Boulez


Der in Mexico City geborene Spezialist für Neue Klaviermusik leistete Enormes; gerade bei den Notations und der Sonate von Boulez war er ein Meister der ausgeglichenen, nicht nach Händen gewichteten Bedienung der Tastatur. Vieles bei Boulez, etwa der zweite Sonatensatz oder einige der Zwölftakter, verlangen eine Automatenpräzision wie bei Ligeti, doch paarte Litwin diese manuelle Fertigkeit noch mit einer unglaublichen Eleganz und Geschmeidigkeit.

Es muß ein Pianist sein so ganz nach Pierre Boulez' Geschmack: Sauber und sorgfältig im Umgang mit Klängen, präzise bis hart im Anschlag, ruhig, ja gelassen in Fragen der Form. Und, ganz er selbst, ohne jede Extravaganz.

Stefan Schickhaus, Main-Echo

Für ein paar Finger mehr


Zur Uraufführung von Gielens »recycling der glocken« in Berlin

Der pianistische Mehrwert ist kaum zu fassen: Manchmal hört es sich so an, sieht es so aus, als müssten dem ohnehin schon hochvirtuos geforderten Klavierspieler noch einmal fünf bis zehn Finger zusätzlich wachsen.

Stefan Litwin ist nicht nur einer der wenigen denkenden Pianisten, die ein solches »Schlachtroß« auch technisch zu zäumen wüssten. Er hat außerdem rund um die spektakuläre Uraufführung eines seiner intelligenten Programme gebaut, in den Querbezügen so sinnvoll wie an Erkenntnissprüngen reich.

Eleonore Büning,
Frankfurter Allgemeine Zeitung